Tournüre & Natural Form

Diesen Zeitraum kann man grob auf die zweite Hälfte der 1860er Jahre bis ca. 1890 eingrenzen. Im Laufe dieser knapp zweieinhalb Jahrzehnte sehen wir den Übergang von großen, üppig dekorierten Röcken und kurzen Taillen der Frühen oder Ersten Tournüre über eine sehr enge, langgezogene Silhouette der Natural Form oder Engen Mode zurück zu einer strengeren, vertikaleren Form der Späten oder Zweiten Tournüre.

Sind Frühe Tournüre und Natural Form noch freizügig mit verspielten Draperien und üppigen Besätzen, sticht die geradezu maskulin wirkende Schlichtheit der Späten Tournüre im Vergleich besonders ins Auge. Hier wird jetzt eher mit der vertikalen Linie gespielt. Eventuell auch mit besonders gemusterten Stoffen oder schlichten Besätzen, aber im Grunde wirkt gerade die Tageskleidung eher streng. Für festliche Abendgarderobe wird die Strenge dann doch wieder durch Raffungen und Besätze aufgelockert.

Als Tournüre oder Cul-de-Paris wird im Übrigen der Unterbau bezeichnet, mit dem das Aufbauschen der Röcke bzw. Überröcke im Bereich der hinteren Rockbahnen bewerkstelligt wird. Gleichen diese Unterbauten zur Zeit der frühen Tournüre noch grob einer Käfigkrinoline, finden wir zur Zeit der späten Tournüre und in der Übergangszeit davor eher Gestelle, die nicht den ganzen Unterkörper umschließen, sondern über dem Gesäß getragen werden. Egal zu welcher Zeit: die Auswahl an Modellen und Patenten ist sehr vielfältig.

Es entstehen jetzt häufiger Kleider, bei denen verschiedene Oberteile zu einem Rock gehören. Z.B. hochgeschlossen oder mit Einsatz im Ausschnitt mit langem Arm (Tagesbekleidung), tiefausgeschnitten ohne Arm (Abendbekleidung). Zusätzlich können gelegentlich die unteren Teile des Ärmels abgenommen werden. Oder die Schleppen können hochgerafft bzw. bei einigen Entwürfen sogar an- und abgeknöpft werden. Seltener werden die Überröcke ausgetauscht. Damals war der teuerste Teil der Bekleidung das Material. Diese Tricks trugen deshalb dazu bei, gerade bei festlicheren und damit teueren Kleidern den größten Nutzen aus der getätigten Investition zu ziehen.


1868 bis ca. 1876

Zu Beginn der Frühen Tournüre ist die Entwicklung aus der Form der elliptischen Krinoline offensichtlich. Die Front und die Seiten werden zunehmend weniger ausgestellt und fallen bald senkrecht nach unten. Die hintere Rockbahn wird zuerst hauptsächlich durch das Drapieren von Röcken und Überröcken im oberen Drittel betont. Die hintere Rockbahn wird aber immer weniger durch einen Unterbau nach außen gehoben. Sie fällt - nur noch leicht unterstützt - deutlich dichter am Körper herunter. Dabei bleibt eine Schleppe - auch für Tageskleidung - en vogue.

"Der Bazar" 1868

Die Form der Taillen verändert sich ebenfalls deutlich. Ausgehend von den kurzen, leicht über der Höhe der natürlichen Taille endenden Oberteilen entstehen zum Ende der Frühen Tournüre die langen, sogenannten Küraß-Taillen. Angelehnt an die Bezeichnung Küraß für einen Brustharnisch. Die Oberteile betonen so zwar weiter die Taille, reichen aber deutlich über diese hinunter Richtung Oberschenkel. Selbst wenn z.B. im Fall einer Abendtaille nur in der Front und im Rücken eine Spitze - die sogenannte Schnebbe - über die Taille nach unten zeigt und das Oberteil seitlich über den Hüften hochgeschnitten wird, reichen diese Schnebben deutlich weiter nach unten, als vorher.

"La Mode Illustrée" 1874

Die Ausschnitt-Formen der ausgehenden Krinolinen-Zeit werden übernommen: tagsüber eher halsnah bzw. mit einer Chemisette oder einem Einsatz ausgefüllte Dekoltées, abends lassen die Taillen viel Schulter und Ausschnitt sehen. Gerade tagsüber wird gerne mit verschiedenen Lagen gespielt, die Westen, Revers, Blusen etc. simulieren.

Die Ärmel liegen eher eng an und folgen in der Form ebenfalls der Krinolinenmode. Sie werden jetzt etwas weiter Richtung der Schulter eingesetzt, sind allerdings noch immer leicht überschnitten. Tagsüber werden in der Regel lange Ärmel getragen, Abend- oder festliche Mode erlaubt auch kurze Ärmel oder ärmellos. 

Der Übergang von der Frühen Tournüre zur Natural Form oder auch Engen Mode ist fließend und schwer genau festzulegen. 

1876 bis 1882

Die Enge Mode oder Natural Form dauert nur wenige Jahre an. Sie kann beinahe als eine Verlängerung der Frühen Tournüre verstanden werden. Die Betonung durch Draperien auf Gesäß- bis Kniehöhe bleibt bestehen.

"Peterson´s Magazine" 1874

Gegen Ende der Engen Mode werden auch gerne durch seitliche Drapierungen - den sogenannten Paniers - die Hüften betont. Die Rockweite nimmt dramatisch ab. Die modisch enge Rockform erlaubt kein weites Ausschreiten mehr. Die Schleppe - auch gerade am Tag - hat noch einmal kurz Konjunktur, dann verschwindet sie für Tageskleidung bis zum Ende des Jahrhunderts komplett.

Als Oberteil hält sich weiter die Küraß-Taille. Verspielte Besätze und Raffungen bleiben in Mode, aber auch schlichtere Entwürfe lassen sich finden. Tagsüber trägt man jetzt eher hochgeschlossen mit den verschiedensten Kragenformen, gerne auch einem Stehkragen. Mit Chemisettes gefüllte Ausschnitte werden seltener.



Die Ärmel liegen eng an und werden an der Schulter angesetzt. Sie sind tagsüber lang. Gelegentlich werden 3/4 Ärmel getragen, dann aber in der Öffentlichkeit auf jeden Fall mit Handschuhen, die verhindern, dass zuviel Haut sichtbar wird. Für die festliche Mode gibt es von ärmellos bis lang alle Varianten.

Und gerade als man nicht mehr weiß, wie die Kleider noch enger am Bein anliegen könnten, kommt - überraschend - die Tournüre zurück und mit ihr wieder ein größerer Rockumfang.

1882 bis 1890

Man hat beinahe den Eindruck als ob die Tournüre über Nacht wieder in der Mode Einzug hält. Tatsächlich waren auch zur Zeit der Engen Mode durchaus noch kleinere Polster oder Unterbauten dieses Namens benutzt worden, um die rückwärtigen Draperien abzustützen oder auszufüllen. Nun kann allerdings von einer kleinen Polsterung nicht mehr die Rede sein.


"La Mode Illustrée" 1884

Die Röcke bleiben vorne und seitlich weiter eng und eher fußfrei in der Länge. Auch in dieser Zeit taucht die Schleppe nur für festliche Mode auf. Die hintere Rockbahn wird nun aber beinahe waagerecht nach hinten ausgestellt. Die Rockumfänge nehmen so zwangsläufig wieder zu. Drapierungen betonen vermehrt die Längsachse, Dekorationen sind eher linear und streng. Einige Ausnahmen von dieser Strenge gibt es aber und diese findet man gerade im Bereich der Sommermode. Hier sind weiter bunt gemusterte Stoffe, Rüschen, Spitzen und Bänder zu finden: luftiger wirkende Kreationen für die warme Jahreszeit.

Die Taillen behalten hauptsächlich die Küraßform bei, auch wenn Oberteile nun gelegentlich - vor allem zum Ende dieser Mode-Spielart - in einem Taillenband enden. Die nachfolgende Mode wirft ihre Schatten voraus. 

Hochgeschlossene Oberteile tagsüber sind weiter angesagt. Steh- und Reverskragen - gerne in Kombination mit Einsätzen im Vorderteil, die verschiedene Lagen imitieren -  dominieren. Tiefere Ausschnitte in verschiedenen Formen sind dem festlichen Anlass vorbehalten.
 

"Der Bazar 1889"

Die Ärmel setzten jetzt recht hoch auf der Schulter an und werden gerne eng geschnitten. Daher bestehen sie oft aus zwei Schnitt-Teilen, die bereits eine leichte Beugung des Armes vorgeben. Zum Ende der Dekade bilden sich langsam kleine „Köpfchen“ oben am Ärmel, die sich in der darauffolgenden Mode mehr und mehr zu Puffärmel ausweiten.

Grundsätzlich gilt: Elemente der Herrenmode werden verstärkt in die Damenmode übernommen. Die Optik maßgeschneiderter Herrenanzüge wird auf Damenbekleidung - vor allem für Tageskleidung - übertragen. 

Dann - ca. 1890 - verschwindet die Tournüre erneut - und diesmal bislang endgültig - aus der Mode und die Zeit der Gibson Girls beginnt.