Der Vorstich ist einer der simpelsten Stiche und vermutlich einer der ältesten der Menschheit. Ein Faden - oder ein schmaler Lederstreifen, eine gedrehte Sehne, verzwirnte Pflanzenfasern usw. - wird ohne Rückstiche immer abwechselnd über und unter dem Nähstück entlang geführt.
Er wirkt auf den ersten Blick nicht spektakulär. Denn eine besonders stabile Verbindung im Vergleich mit z.B. dem Steppstich ist er eher nicht. Reisst der Faden, ribbelt unter Zug alles recht schnell auf. Das macht ihn dann aber in der Variante als Heftstich ideal für vorübergehende Verbindungen. Sein Vorteil in der Variante als Vorstich mit gelegentlichem Rückstich ist aber, dass er recht zügig zu arbeiten ist. Gerade bei langen Rockbahnen ein Vorteil.
Zu den Beispielen:
Vorstich:
Hier ein kleiner Vorstich, mit dem eine dünne Schnur mittig in einen Schrägbandstreifen genäht wird. So bereite ich immer meine Paspeln vor, die später Saumkanten oder diverse Taillennähte (gerade im Biedermeier) zieren.
Im Grunde eine minimal längere Stichlänge, als die mit der ich auch Rockbahnen zusammennähe, wenn sie - wie hier im Biedermeier - Handstiche sein, aber keine Spannung aushalten müssen. Ein gelegentlicher Rückstich (z.B. 2. v. li. im Bild) verhindert dort, dass im Fall eines gerissenen Fadens alles aufribbelt. Diese Technik ist u.a. in „The Workwoman‘s Guide“ belegt.
Man kann auch Schnureinlagen damit in Tunnel einnähen. Entweder indem man den Stoff - wie im Falle der Paspel - darum legt oder die Schnur zwischen zwei Stofflagen fixiert. Als Beispiel für die letzte Variante hier eine Detailaufnahme vom Saum eines Unterkleides für die Übergangszeit Empire/Biedermeier. Der im unteren Viertel mit Schnur ausgesteifte Rockteil hilft, die Kegelform des Kleides zu erzeugen. Darüber zwei kleine Aufsäume, ebenfalls mit einem Vorstich genäht.
Im folgenden Bild wird bei einem gefütterten Überkleid aus dem Mittelalter der Saum damit genäht. Hier in Rot der äußere Wollstoff. Man kann gut erkennen, dass zuerst der Saum einmal nach innen umgeschlagen und mit kleinen Vorstichen angenäht wurde. (Als Tip am Rande: Wäre das Kleid ungefüttert und hätte der Stoff eine Neigung zum Aufribbeln: unbedingt zweimal umschlagen) Die zweite Reihe von Vorstichen unten an der umgeschlagenen Kante dient dazu, den Stoff flach zu halten. Laut meiner Recherche gerade für Säume recht üblich (heute würde man die Kante flachbügeln). Man sieht dann wie das grüne Leinenfutter ebenfalls umgeschlagen und mit einem kleinen Vorstich dagegen genäht wird.
Diese Art des Säumens von Außenstoff und Futter konnte ich u.a. auf einem Gemälde des ausgehenden Mittelalters sehen. Nur wurde dort ein Faden in Farbe des Futters verwendet. Aus Angst, dass er außen zu sehen sein könnte, habe ich mich anders entschieden.
Außerdem sieht man auch wie sich außen auf dem roten Wollstoff (oben im Bild) schwach kleine Vorstiche links und rechts der Längsnaht entlang ziehen. Auch hier dienen sie dazu, den Stoff flach anzulegen. Da sich das Leinenfutter sehr gut durch Ausstreichen mit einem Falzbein hat auseinander pressen lassen, habe ich dort darauf verzichtet.
Im folgenden Bild wird ein Schein-Revers auf eine Biedermeier-Taille damit aufgenäht. Von innen sieht man den regelmäßigen Stich, der außen komplett zwischen Paspel und Revers verschwindet.
Und natürlich nicht zu vergessen: die Verwendung beim Einkräusel von Stoffen. Dann in zwei oder mehr parallel verlaufenden Reihen. Das ist zwar deutlich mehr Zeitaufwand als das Einziehen von Kräuselfäden mit der Nähmaschine, aber dafür reißen sie bei mir nicht so schnell. Hier sind die Fäden auch im Rock verblieben und stabilisieren die Falten zusätzlich.
Noch ein Version des Einkräuselns: Man näht mit Vorstich eine Schnur entweder zwischen zwei Stofflagen odere schlägt sie wie für eine Paspel in den Stoff und näht beide Lagen dicht an der Schnur mit Vorstich ein. Wenn das geschehen ist, schiebt man den Stoff zusammen. Man kann so eine Saumrüsche einhalten und auf den Rock aufsetzen.
Das Beispiel zeigt aber eine Schnurschute. Die in engen Abständen eingenähten Schnüre sorgen für eine Aussteifung der Krempe. Zusammen mit einer nicht zu knappen Dosis Wäschestärke ist das tatsächlich ausreichend, um ohne Hutdraht zu funktionieren.
Zuerst die Außenseite, darunter die Innenseite:
Der Heftstich:
Nicht spektakulär, aber sehr nützlich. Hier hält der Heftstich Futter und Außenstoff an der Oberkante eines Ärmels zusammen:
Oder - recht großzügig als vorübergehende (und ein bissel schiefe) Markierung der hinteren Mitte einer Taille:
(Die beiden oben stehenden Bilder zeigen dann zufällig auch gleich, wie eine Paspel von innen und von außen aussieht, wenn sie als Saumkante verwendet wird (oben für einen Überärmel, unten eine Taille))
Zum Heften verwendet man für gewöhnlich einen Heftfaden. Dieser ist weich, etwas dicker als das normales Nähgarn und reißt dafür schneller. Er ist allerdings auch günstiger als Nähgarn, weshalb es vielleicht gar nicht so schlecht ist, etwas davon auf Lager zu haben.
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