10 September 2020

Der Überwendlich- oder Saumstich, ein Alleskönner

Ein unterschätzter Handstich, der in vielen Bereich sehr nützlich ist. Hier also jetzt mein Loblied auf Denselben. 

In Handarbeitsbüchern unterscheidet man eigentlich zwischen dem Überwendlich- und dem Saumstich, da aber im Grunde immer dieselbe Nähbewegung durchgeführt wird, war ich so frei, alles unter einer Überschrift zusammen zu fassen. Im Text nenne ich dann aber den in Nähbüchern verwendeten Begriff.

In diesem Bild wird der Überwendlichstich verwendet, um eine Tüllspitze gleichzeitig leicht einzukräuseln und an ein Band zu nähen. Man sieht auch sehr schön die Ausführung des Stiches selbst - er wird quasi spiralförmig um die Kante gearbeitet.



Mit dem Überwendlichstich wurden im folgenden Bild Außenstoff und Futter an der rückwärtigen Kante einer Biedermeiertaille mit gegeneinander eingeschlagenen, hinteren Nahtzugaben zusammengenäht.


So ähnlich sieht es auch aus, wenn eine Nahtzugabe im Inneren des Kleidungstückes damit versäubert wird. Nur ist im Bild die Stoffkante roh und nicht umgeschlagen. Laut meinen Nähbüchern können aber auch hier zum Versäubern Außen- und Futterstoff vor dem Umstechen gegeneinander eingeschlagen werden. 

Unten kann man zudem ganz gut sehen, wie das weiße, ca. 1 cm breite Taillenband an der Oberkante in größeren Stichen an die Taille angenäht und ebenso die Rockfalten am unteren Rand des Taillenbandes überwendlich am Band fixiert wurden.


In diesen Bildern sieht man an einem anderen Beispiel en détail, wie die Rockfalten an ein Taillenband angenäht werden (links innen, recht außen unter der Paspel). Der weiße Faden auf dem Taillenband ist sozusagen die Rückseite eines Rückstiches mit dem der schwere Rock zur Sicherheit von außen zwischen Kante der Taille und der Paspelschnur nochmals am Oberteil befestigt wurde.


Aus normaler Entfernung aufgenommen und ohne die Nahtstellen absichtlich freizulegen ist der Überwendlichstich von außen unsichtbar. Ebenso wie der Rückstich verschwinden beide ober- bzw. unterhalb der Paspelierung.




Und eine Verwendungsmöglichkeit, die in der Moderne eher keine Rolle mehr spielt: Er eignet sich wunderbar um eine Kordel oder Schnur unten auf die Saumkante von Kleid oder Rock aufzusetzen. Gerade bei Bodenlänge scheuert sonst allmählich diese Kante durch. Mit diesem Trick muss im Zweifelsfall nur eine neue Schnur aufgenäht werden. Im Bild sieht man den Rock von innen, mit der aufgesetzten schwarzen Schnur unten. Die schwarze Saumblende ist ca. 8 cm hoch.



Eine ziemlich schlaue Variante des Überwendlichstiches zur Erstellung einer haltbaren Naht ist der „Point à rabattre sour la main“. Er ist leider mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Hier werden in einem Schritt Außen- und Innenstoff gleichzeitig beim Zusammennähen zweier Schnitt-Teile verbunden. Man sticht mit der Nadel quasi im rechten Winkel zur Naht und erfasst dabei immer die Stoffkanten 2-4. Immer abwechselnd von rechts nach links und von links nach rechts. Diesen Stich stelle ich ausführlich in einem gesonderten Beitrag vor, da er in diesem Rahmen schwierig zu erklären ist. Er läßt sich auch nur widerwillig ablichten. Beide Bilder sind von der Innenseite. Außen sieht man im Grunde nichts.


Oder der Überwendlichstich wird auch verwendet um zwei Stoffe ohne Nahtzugaben direkt an der Webkante zu verbinden. Das folgende Bild zeigt die Verbindung von zwei rechteckigen Wollshawls direkt an den Rändern, um ein großes, quadratisches Tuch zu erhalten. Diese quadratischen Tücher waren von den 1840ern bis in die Zeit der Krinolinenmode, zum Dreieck gefaltet, als Schultertücher sehr beliebt. Heute bekommt man in dieser Größe aber nur schwer etwas Passendes. Also habe ich zu diesem Trick gegriffen. 

Die Verbindung ist mit einem fliederfarbenen Seidengarn ausgeführt. Es wurden nur auf jeder Seite der Stoffbahnen zwei Kettfäden erfasst. Zuerst eine maximale Vergrößerung, deshalb leider etwas unscharf; darunter die Nahtstelle in der Bildmitte von oben nach unten verlaufend aus ca. 50 cm Entfernung (im Grunde sind nur die etwas dunkleren Webkanten zu erkennen).



Zu einer Zeit, als die Webkanten bei allen Stoffen noch nicht - wie heute - durch Übernähen gefertigt wurden und jetzt in Stärke und Optik teilweise deutlich vom restlichen Webbild abweichen, kam diese Art der Verbindung öfter vor. Z.B. ist aus dem Mittelalter das genannte Vorgehen bekannt. Es läßt sich simulieren, wenn man die zu verbindenden Stoffkanten nach innen umschlägt und statt der echten Webkante nur den Stoffknick mit der Nadel erfasst. 

Hier die Nahaufnahmen vom Inneren bzw. Äußeren meines Biedermeier-Unterhemdes, an dem ich diese Naht ausprobiert habe. Die sichtbare Breite der doppelt umgelegten und mit Saumstich fixierten Nahtzugaben beträgt jeweils 5 mm. Hätte man wirklich zwei Webkanten erfasst wie oben beim Shawl, gäbe es die natürlich nicht. So ist nur die Naht ein überwendlicher Stich, die Versäuberung der Nahtzugaben genau genommen ein Saumstich.



Auch hier erscheint er in seiner Ausführung als Saumstich. Das nachfolgende Bild zeigt die nach Umfalten noch 1 cm breite Nahtzugabe eines Schrägbandes mit eingenähter Paspel. Nach dem Annähen am Ärmelsaum wurde sie  auf der Innenseite nach zweimaligem Umlegen anstaffiert. So sieht auch jeder Saum oder jedes innen anstaffierte Schrägband aus, die mit diesem kleinen Handstich fixiert werden.


Im Bild oben verschwindet das Meiste des Fadens zwischen Futter und Außenstoff. Bei einlagigen Stoffen achtet man aber darauf, nicht nur von der Falz allenfalls ein paar Fäden auf die Nadel zu nehmen, sondern auch vom Außenstoff, damit der Nähfaden nicht auf der „schönen“ Seite zu sehen ist. Bei den folgenden Bildern mit (oben Innen- und unten Außenansicht) eines Unterhemd-Saumes, wurde natürlich genau darauf geachtet. Die sichtbare Saumtiefe beträgt ca. 1 cm.


Oder als Stich an einem winzigen Rollsaum (hier die 2 mm tiefe Rüsche einer Empire-Schute):



Außerdem verwendet man den Überwendlich- bzw. Saumstich auch bei der Kappnaht (eine genaue Anleitung für diesen Stich folgt zu einem späteren Zeitpunkt). Man kann entweder nur die doppelt umgeschlagene Nahtzugabe mit ihm fixieren oder man näht auch die erste Verbindungsnaht, die auf den folgenden Bildern mit Steppstich ausgeführt ist, mit einer Kappnaht. Egal in welcher Form; sie wird gerne für das Versäubern von Unterwäsche verwendet, da die Nahtzugaben so flach anliegen, nicht auftragen und sich in zarten Stoffen zierliche Säume herstellen und versäubern lassen. Deshalb als Beispiel auch hier wieder ein Unterhemd.

Links die Innenansicht (die schöne Seite der Steppstich-Naht ist links zu sehen, rechts daneben die anstaffierte Nahtzugabe, sichtbare Breite 5 mm). Das rechte Bild zeigt die Außenseite.


Eine weitere Möglichkeit zwei Stoffstücke mit diesem Stich zu verbinden, habe ich für die Naht zwischen Fußteil und Beinteil meiner Mittelalterstrümpfe verwenden. Eine belegte Methode gerade bei Wollstoffen. Der Vorteil: Die entstehende Naht liegt komplett flach und benötigt auch keine große Nahtzugabe. Und versäubert hat man die Kante im selben Schritt gleich auch. 

Für den Strumpf waren die Nahtzugaben an dieser Stelle 5 mm breit. Ich habe die Stoffkanten flach 1 cm tief übereinander geschoben. Es liegt dann jeweils eine Kante außen, eine innen. Diese Kanten werden dann mit kleinen überfangend gearbeiteten Stichen am darunterliegenden Stoff festgenäht. Im Bild unten erkennt man an der oberen Naht bei genauem Hinsehen die Stoffkante. Den Tragetest haben die Strümpfe übrigens bereits mit Bravour bestanden. Stabil und nichts drückt.


Ähnlich sieht es aus, wenn damit Blenden oder Tunnel aufgesetzt werden. Im folgenden Beispiel habe ich für ein Unterkleid (ca. 1815) innen und außen auf die Verbindungsnaht zwischen Ober- und Rockteil einen Stoffstreifen aufgenäht. Einmal zum Durchziehen des Taillenbandes und dann auch um die Taillennaht abzudecken. Den Stoffstreifen habe ich dazu an den Rändern zum Kleidungsstück hin umgelegt und an den Kanten festgenäht. Hier sieht man die Innenseite und über der umgelegten Kante erkennt man die Stiche mit denen der äußere Stoffstreifen an seiner Oberkante angenäht wurde. 


Die folgende, elegante Version eines Haken- und Ösenverschlusses einer Küraßtaille habe ich nach einer Anleitung aus „Die Anfertigung der Damengarderobe“ von 1886 hergestellt. Eine genaue Anleitung hierfür wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeliefert. 

Man sieht, dass die Kante der Stoff-Falte über den Ösen ebenfalls mit einem Saumstich fixiert ist. Der Vollständigkeit halber sollte ich allerdings noch erwähnen, dass in der Anleitung für diesen letzten Schritt eigentlich knapp an der Kante mit einem Steppstich durchgeführt wird. Ich konnte aber beim besten Willen durch soviele Stofflagen keinen schönen, kleinen Steppstich hinbekommen. Außerdem ist die Befestigung so von außen komplett unsichtbar. Auch die Abdeckung der Haken: mit Saumstich.



Last but not least: Bänder und Applikationen lassen sich natürlich auch mit ihm an- bzw. aufnähen. 

Es bleibt aber in jedem Falle festzuhalten: ein wirklicher Alleskönner, den man im Repertoire haben sollte.

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